EINE NEUE PASSION VON BACH Die Frage nach Diversität und Teilhabe stellt sich überall - auch und gerade in den scheinbar etablierten Segmenten der sogenannten „Hochkultur“. Oftmals gelten die Ausdrucksformen traditioneller bürgerlicher Kultur als Bastionen konservativer Haltungen, gegen die sich eine aktuelle, „bunte“ und diverse Gegenwartskultur zu behaupten und durchzusetzen hat. Dabei wird oft übersehen, dass gerade die Nischen der Hochkultur über lange Zeit Zufluchtsorte und Schutzräume gesellschaftlich marginalisierter Gruppen waren und sind. Nur dass man sie oft nicht wahrnimmt, weil sie sich vielfach unter Assimilationsdruck tarnen beziehungsweise Codes der Sublimation entwickelt haben, die nach nach außen „Normalität“ vortäuschen.
Queere Personen sind vielfach im Bereich klassischer und alter Musik tätig, und in Ārt House 17 treten Personen in all ihrer geschlechtlichen Diversität auf - nicht als Provokation oder Gag, sondern in ganz bewußtem Bezug zu den Inhalten der aufgeführten Musik. Geschlechterfluidität hat klare Bezugspunkte zur barocken Oper mit ihren Hosenrollen und Kastraten, und es stellt sich immer wieder heraus, dass die vorbürgerlichen Kulturen sehr interessante Anknüpfungspunkte zur Gegenwartsdiskussion über Gender und Geschlecht bieten. In diesem Zusammenhang benutzen wir übrigens auch den Begriff „queer“. Aus dem Englischen kommend, wird diese Bezeichnung für „widerständig“ oder „schräg“ gegen Konventionen stehend von Betroffenen als Sammelbegriff nicht nur für unterschiedliche Arten der Sexualität sondern auch für die Anerkennung der natürlichen Fluidität von Gender, also Geschlecht, verwendet. Ich selbst arbeite als Künstler seit nunmehr 30 Jahren an Ausdrucksformen von queerer Identität, und eine meiner aktuellen künstlerischen Produktionen hat mich dazu inspiriert, Bachs „Johannes-Passion“ für das Festival Oude Muziek 2022 zu überschreiben: Die Nederlandse Bachvereniging hat zu ihrem 100-jährigen Bestehen eine Oper mit neuen Texten auf Bach-Musik beauftragt, ich habe das Libretto dazu verfasst und während der Arbeit erkannt, wie sehr sich Bachs Musik für Überschreibungen anbietet. Er selbst hat es häufiger selbst getan und dabei nicht zwischen weltlichen und geistigen Werken unterschieden, immer ging es darum, wie die Musik den Kontext und Inhalt am besten umsetzen kann. Dabei hat Bach ein unglaubliches dramatisches Gespür. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass er ein eminenter Opernkomponist gewesen wäre, hätte er die Chance dazu bekommen.
Diese Vorarbeiten waren die Inspiration, die berühmte „Johannes-Passion“ von Johann Sebastian Bach mit einem komplett neuen Libretto zu überschrieben, das statt der Leidensgeschichte Jesu die Leidensgeschichte diskriminierter und ermordeter queerer Menschen in den Mittelpunkt des Nachdenkens stellt. Dabei geht es nicht um äußerliche Provokation, sondern um die ernste Frage unseres Verhaltens dem Leiden von Menschen gegenüber, die aufgrund ihrer Sexualität oder ihrer Genderdiversität verfolgt wurden/werden. Was wäre, haben ich mich gefragt, wenn Bach nicht das Leiden Christi vertont, sondern die Verfolgung von LGBTQIA+ Menschen in den Blick genommen hätte? Bach hatte dazu keine Chance, denn queere Menschen waren zu seiner Zeit in Europa zutiefst verachtet. Auch heute noch gibt es vielerorts Diskriminierung und Verfolgung, aber auch die Chance, darauf aufmerksam zu machen und für Gleichberechtigung und Anerkennung einzutreten. Genau dazu dient der neue Text. Nicht dazu, die biblische Passion zu schmälern, die kommt gar nicht vor, sondern um eine ganz andere zu erzählen. Bach schreibt in seiner Passion Musik, die Leid und Hoffnung in Töne fasst. Tatsächlich bleibt die Musik, die Bach komponiert hat, in unserer Version komplett erhalten, nichts wird in unserer Aufführung verändert als der Text, der sich ganz und gar den Melodielinien, die Bach geschrieben hat, anpasst. Und auch die Geschichten, die wir erzählen, sind historisch belegt. Die erwähnten Personen haben gelebt und ihr Schicksal ist uns in vielen Quellen und Dokumenten überliefert. Zwei historische Ereignisse aus unmittelbar jener Zeit, in der Bach seine Passion schrieb, stehen im Mittelpunkt. Zum einen eine Welle von Verfolgungen, die um 1730 im niederländischen Utrecht ausbrach und der zahlreiche schwule Männer zum Opfer fielen, und zum anderen die tragische Geschichte der trans Person Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, die 1721 in Halberstadt hingerichtet wurde, weil sie mit einer Frau zusammenlebte und als weiblich definiert wurde. Wichtige dokumentarische Grundlagen über die Pogrome in Utrecht darüber habe ich dem Buch „Grouwelen onzer eeuwe“ Von Theo van der Meer zu verdanken. Und die tragische Geschichte von Anastasius Lagrantinus Rosenstengel/Catharina Margaretha Linck ist samt allen historischen Quellen im wunderbaren Buch „In Männerkleidern“ von Angela Steidele dokumentiert. Aber auch Beispiele gegenwärtiger Aggressionen und Verfolgung wie das Massaker im schwulen Nachtclub Pulse in Orlando und die Gewalt gegen lesbische Frauen in Mexiko werden nicht ausgespart. Wie denn auch die jüngsten Äußerungen von Vladimir Putin und Patriarch Kyrill zeigen, die den Überfall auf die Ukraine mit dem Schutz Russlands vor „sündhafter westlicher Dekadenz“, die „Perversionen“ ermögliche, zu rechtfertigen versucht: die Diskriminierung und Verfolgung queerer Menschen ist noch immer tödliche Realität. Bachs musikdramatisches Talent dazu zu nutzen, diese aktuellen Geschichten zu erzählen, ist eine meiner Meinung nach nicht nur legitime, sondern zwangsläufig notwendige Konsequenz der Beschäftigung mit historischer Aufführungspraxis. Wir können so die Dringlichkeit, die Aktualität van Bachs Kunst ganz unmittelbar neu erleben. Thomas Höft
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A NEW PASSION BY BACH The question of diversity and participation arises everywhere - even and especially in the seemingly established segments of so-called ‘high culture’. The forms of expression of traditional bourgeois culture are often seen as bastions of conservative attitudes against which a current, ‘colourful’ and diverse contemporary culture has to assert itself. It is often overlooked that the niches of high culture have long been places of refuge and protection for socially marginalised groups. The only difference is that they are often not recognised because they camouflage themselves under pressure to assimilate or have developed codes of sublimation that feign ‘normality’ to the outside world.
Queer people are often active in the field of classical and early music, and in Ārt House 17 people appear in all their gender diversity - not as a provocation or gag, but in conscious relation to the content of the music performed. Gender fluidity has clear points of reference to baroque opera with its trouser roles and castrati, and it turns out time and again that pre-bourgeois cultures offer very interesting points of reference for contemporary discussions about gender and sex. Incidentally, we also use the term ‘queer’ in this context. Coming from English, this term is used by those affected as a collective term not only for different types of sexuality but also for recognising the natural fluidity of gender. I myself have been working as an artist on expressions of queer identity for 30 years now, and one of my current artistic productions inspired me to rewrite Bach's ‘St John Passion’ for the Festival Oude Muziek 2022: The Nederlandse Bachvereniging has commissioned an opera with new texts on Bach music for its 100th anniversary; I wrote the libretto for it and realised during the work how much Bach's music lends itself to overwriting. He often did it himself and didn't differentiate between secular and spiritual works; it was always about how the music could best realise the context and content. Bach has an incredible dramatic flair. It is easy to imagine that he would have been an eminent opera composer if he had been given the chance. This preliminary work was the inspiration for overwriting Johann Sebastian Bach's famous ‘St John Passion’ with a completely new libretto that places the story of the suffering of discriminated and murdered queer people at the centre of reflection instead of the story of Jesus' suffering. It is not about outward provocation, but about the serious question of our behaviour towards the suffering of people who were/are persecuted because of their sexuality or gender diversity. What would have happened, I asked myself, if Bach had not set the suffering of Christ to music, but had instead focussed on the persecution of LGBTQIA+ people? Bach had no chance to do this, because queer people were deeply despised in Europe in his time. Even today, there is still discrimination and persecution in many places, but also the chance to draw attention to it and to stand up for equal rights and recognition. This is precisely the purpose of the new text. Not to diminish the biblical Passion, which does not appear at all, but to tell a completely different story. In his Passion, Bach writes music that expresses suffering and hope in sound. In fact, the music that Bach composed remains completely intact in our version; nothing is changed in our performance except the text, which is completely adapted to the melody lines that Bach wrote. And the stories we tell are also historically documented. The people mentioned lived and their fate has been handed down to us in many sources and documents. Two historical events from the immediate period in which Bach wrote his Passion take centre stage. Firstly, a wave of persecution that broke out in Utrecht in the Netherlands around 1730 and which claimed the lives of numerous gay men, and secondly, the tragic story of the trans person Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, who was executed in Halberstadt in 1721 because he lived with a woman and was defined as female. I have the book ‘Grouwelen onzer eeuwe’ by Theo van der Meer to thank for important documentary evidence about the pogroms in Utrecht. And the tragic story of Anastasius Lagrantinus Rosenstengel / Catharina Margaretha Linck is documented together with all the historical sources in the wonderful book ‘In Männerkleidern’ by Angela Steidele.
However, examples of current aggression and persecution such as the massacre at the Pulse gay nightclub in Orlando and the violence against lesbian women in Mexico are not left out. Trying to justify the invasion of Ukraine by protecting Russia from ‘sinful Western decadence’ that enables ‘perversions’, the recent statements by Vladimir Putin and Patriarch Kyrill show: the discrimination and persecution of queer people is still a deadly reality. Using Bach's musico-dramatic talent to tell these current stories is, in my opinion, not only a legitimate but an inevitable consequence of engaging with historical performance practice. In this way, we can experience the urgency, the topicality of Bach's art in a completely new way. Thomas Höft
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